Narben

Oder

 

Über das Zusammenleben mit verwundeten Menschen 


Triggerwarnung: SVV

 

Ich hab einige Narben.

Zum Beispiel die Windpockennarbe zwischen meinen Augenbrauen, die ich habe, seit ich im Kindergarten war.

Ich hab die juckende Stelle so oft aufgekratzt, bis sie sich vernarbte.

Später hatte und habe ich auch immer wieder Mückenstiche aufgekratzt, die dann vernarbten, aber keine war so tief und blieb solange, wie diese.

 

Ich habe noch eine Narbe am rechten Handgelenk, wo mich ein Hase, den wir mal hatten, gebissen hat. Auch die Wunde war nicht sehr tief, aber ich habe sie immer wieder aufgekratzt. Scheint wohl ein Tick zu sein.

 

Und dann hab ich noch OP-Narben vom vorletzten Sommer.

Alles raus, was keine Miete zahlt, war das Motto der Cholezystektomie.

 

Ich habe aber auch innere Narben.

Narben, die mir andere durch Worte und Gesten beigefügt haben.

Und solche, die ich selbst an anderen hinterlassen habe und die wie ein zweischneidiges Schwert mich selbst getroffen haben und einfach nicht verschwinden wollen.

 

 

Und dann sehe ich natürlich noch die Narben an Oberschenkeln und Handgelenken bei Freunden und Bekannten, die sie sich selbst zugefügt haben.

 

 

Und ich sehe, wie sie alle noch da sind und bin glücklich darüber, dass es sie gibt.

Viele Menschen, die ich kenne haben sich selbst physisch, körperlich, verletzt.

Sie sahen keinen anderen Ausweg, um sich von dem Schmerz in ihnen abzulenken. Von der Unruhe, dem riesigen, lauten Durcheinander.

Sie konnten nicht anders damit umgehen, dass sie sich selbst nicht mehr erkannten, dass sie sich selbst so fremd waren in ihrem Verhalten, das sich plötzlich und ohne Vorwarnung um 180° veränderte.

 

Und ich bin froh, dass sie noch da sind.

Und weitermachen.

 


Es gibt Menschen, und ich zähle mich selbst dazu, die plötzlich anfangen anders zu werden.

Plötzlich schreiben sie seltener zurück als gewohnt.

Wollen nicht mehr mit zu den Aktivitäten, die sie früher so geschätzt haben und keine Gelegenheit verpassen wollten daran teilzunehmen.

Sie reden kaum noch von sich selbst und scheinen manchmal auch nicht richtig zuzuhören.

Sie kapseln sich ab und man fragt sich: „Habe ich etwas falsches gesagt? Bin ich unwichtig geworden?“

 

Und wenn 'man' sich das nicht fragt: Ich frage mich das.

 

Manchmal lebt man sich auseinander, manchmal geht es jemand anderem aber auch 'einfach nur' schlecht. Und die Person weiß nicht warum, weiß nicht, was passiert.

Als würde man die Pubertät nochmal durchleben, nur ohne, dass man darauf vorbereitet wurde im Unterricht, von den Eltern oder durch das Vorleben von allen anderen in der Gesellschaft.

Weil es alleine stattfindet. Nur man selbst fühlt es. Nur man selbst nimmt es wahr.

Irgendetwas verändert sich in dem Blick, in dem man die Welt ansieht.

 

Und plötzlich werden aufgeweckte, fröhliche, laute Personen zu fehlenden Personen.

Sie sind einfach weg.

Leise Personen verschwinden und melden sich nicht mehr.

Sie ziehen sich zurück.

 

Ich zog mich zurück.

Ich lag neben Menschen, die ich liebte im Bett. Und sie sagten mir, sie hätten niemanden für den es sich zu leben lohnt. Ihnen wären alle Menschen egal.

 

Ich saß Menschen am Tisch gegenüber.

Wollte ihre Hand nicht halten, obwohl man eine Beziehung pflegte, denn ich war von ihrem vorherigen Verhalten so verunsichert, dass ich nicht wusste, was als unangenehm empfunden werden könnte. Und sie sagten, sie hätten kein Interesse an mir, aber es wäre nicht wegen meiner Person.

 

Ich hielt Messerschneiden mit meiner Hand, weil die Knäufe in der Hand der anderen Person waren.

 

Ich weinte mich in den Schlaf, weil ich so viel falsches getan und gesagt hatte, und damit andere so sehr verletzte, ohne es böse gemeint zu haben.

 

Manchmal war es eine Krankheit, die mich dazu bewegt hat. Die andere dazu veranlasst hat.

Manchmal war es aber auch nur ich. Manchmal war es auch die Persönlichkeit einer anderen Person.

Manchmal fällt es leicht das zu unterscheiden.

Manchmal fällt es erst nach Jahren auf, dass es das jeweils andere war.

 

Für Krankheiten kann man nichts.

Ich kann für meine Krankheit nichts.

Die Menschen, die mir durch ihre Krankheit Narben zufügten, können für ihre Krankheit nichts.

 

Es macht keinen Spaß und es hinterlässt Narben. Bei allen Beteiligten.

Man leidet, manchmal jahrelang, mit anderen mit. Und ich bin erst 24. Ich habe noch gar nicht so viele Jahre in denen ich bewusst Leid empfinden kann.

 

Mein Job ist es nicht, Narben zu verhindern.

Mein Job ist es nicht, Narben zu pflegen.

Mein Job ist es nicht, Narben zuzufügen und mein Job ist es nicht, Narben zu begaffen, darauf zu zeigen, sie bloß zu stellen, oder zu verurteilen.

 

Jeder wird mal verletzt.

Jeder verletzt mal.

 

Und von außen zu beurteilen, wie tief die Wunde ist, ist nicht möglich.

Es ist wichtig herauszufinden, wo die eigenen Grenzen liegen.

Wie viel man von anderer Narben sehen möchte.

Wie viel man bereit ist zu unterstützen.

Wie viele Narben man sich selbst dafür einhandelt.

Oder wie viele dadurch langsam verblassen.

 

Es ist wichtig herauszufinden, was den Vernarbten gut tut.

Sich ab und an zu melden, hilft meistens.

Vielleicht mit einer Frage, die mit ja oder nein zu beantworten ist.

Vielleicht mit dem Zusatz, dass man auch einfach nur da sein kann.

Vielleicht mit dem Zusatz, dass, wenn es gerade nicht geht, auch nicht antworten muss.

 

Es ist wichtig, Dinge nicht klein zu reden und Dinge nicht zu dramatisieren.

Aber das muss man üben.

Ich übe es.

 

Das letzte Mal, als mir jemand davon erzählte, dass sich alles anfühlt, als wären die eigenen Handlungen nicht mehr die eigenen, musste ich mich daran erinnern, dass dieses Phänomen bei jeder Person anders ist. In den vergangenen Jahren hatte ich von etwa vier Personen mit dissoziativem Verhalten gehört. Und es selbst erfahren.

Genau zuzuhören, nachzufragen, erfahren, was gerade förderlich ist, und was nicht und nicht vorschnell einen Stempel aufzudrücken hilft. Es ist aber auch anstrengender.

Man muss es üben.

Ich übe es.

 

Ich will nicht dazu aufrufen, allen Personen, von denen man längere Zeit nichts gehört hat, 'mal zu schreiben'.

Aber ich möchte Mut zusprechen, auf andere zu achten. Hilfe anzubieten, ohne sich selbst zu vergessen. Und sich im 'nicht Stempel aufdrücken' zu üben.

Ich bin auch mitten drin, statt nur dabei.

 

Danke an alle, die mir nicht böse sind, wenn ich nicht antworte.

An die, deren Hilfe ich für den Moment ablehne.

An die, die sagen, wenn es zu viel wird.

An die, die wenn es gut ist, auch nachfragen.

 

 

Und an alle, die das für andere tun und gleichzeitig üben und auf sich achten.


Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    Schnuffeltuch (Samstag, 23 Februar 2019 15:07)

    Ich bin nicht hier um zu urteilen, dein Verhalten oder Gefühle zu analysieren und einen Wert zu geben. Ich mag es einfach deine Blogs zu lesen auch mal laut, wenn mich gerade keiner hört.

  • #2

    Arpan Phönix (Sonntag, 24 Februar 2019 08:05)

    Das Zauberwort heisst Vergebung. Und es reicht nicht, dem anderen zu vergeben, dass er einem Wunden zufügte. Man muss auch sich selbst vergeben.